Sonntag, 14. April 2013

Mord aus zweiter Hand


Ein dicker Schweißtropfen rann von Andrews Stirn an seiner Nase herunter. Er blieb an seiner Nasenspitze hängen, wo er durch seinen immer schneller werdenden Atem drohte, hinabzufallen. In seinen Ohren rauschte und pochte es und auch seine Brust schien mit jedem harten Schlag seines Herzens fast zu platzen. Er war auf der Flucht – und das, obwohl ihn niemand verfolgte. Noch nicht.
Wieso hatte er das getan? Hatte er es überhaupt getan? Er konnte sich an absolut nichts erinnern. Er hatte sich mit diesem Mann, Mr. Ferguson, getroffen, der interessiert war an Andrews neuer Photovoltaik-Technologie, die fast zehnmal effizienter, als die herkömmlicher Solarzellen war. Ferguson hatte ihm versprochen, dass es ein Meilenstein in der Energieversorgung der Welt werden und sie beide reich machen würde. Das Schimmern der Geldmünzen, die auf sie herab prasseln würden, würde mit seinen Solarzellen ihren ganzen Stromverbrauch decken können, hatte er gescherzt.
Andrew war nervös gewesen, als er dort ankam. So nervös, dass Ferguson gelacht und ihm einen Drink eingeschenkt hatte. Einen guten Single Malt, den Andrew unter normalen Umständen vielleicht zu schätzen gewusst hätte, aber in diesem Moment einfach runter spülte, um sich zu beruhigen. Danach erinnerte er sich an nichts mehr.
Von einer Sekunde zur anderen stand er mit einem blutüberzogenen Brieföffner in der Hand vor Fergusons mit Einstichwunden übersäten Leichnam. Dessen Mund war weit aufgerissen und seine Augen vor Entsetzen geweitet.
Zitternd schaute Andrew an sich hinab. Seine ganze Kleidung war blutverschmiert, genau wie seine Hände. Es bestand kein Zweifel: Er musste Ferguson umgebracht haben. Aber warum konnte er sich an nichts erinnern? Er hatte noch nie jemandem geschadet – geschweige denn, ihn umgebracht.
Irgendwas musste in dem Drink gewesen sein, dachte er sich. Nur konnte er sich bei bestem Willen nicht erklären, warum Ferguson wissentlich auf diese Weise seinen eigenen Tod herbeiführen wollen sollte.
Es ergab alles keinen Sinn. Doch eines war klar: Andrew musste hier weg und zwar schnell. Doch so konnte er nicht auf die Straße. Über einem Kleiderständer hinter Fergusons Schreibtisch hing ein frisch gebügeltes Hemd. Er zog seines aus, wischte sich zitternd die Hände damit sauber und nahm das saubere Hemd. Das Whiskyglas und den Brieföffner wickelte er in sein Hemd ein. Er hatte einmal in einem Krimifilm gesehen, dass ein Täter Tatwaffe und Fingerabdrücke stets versteckte. Er hatte allerdings auch gesehen, dass der Täter trotzdem immer überführt wurde.
Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Er verließ das Büro, war kurz davor den Fahrstuhl zu benutzen und entschied sich dann doch, die Fluchttreppe zu nehmen. Das war sicherer, dachte er sich. Während er die Treppe herunterrannte, dachte er darüber nach, ob ihm im Büro irgendetwas Komisches aufgefallen war, bevor seine Gedächtnislücke eingesetzt hatte. Plötzlich fiel ihm dieser Mann ein, der in dem Fenster gegenüber gestanden hatte. Er hatte ihn gesehen, als er seine Jacke an dem Kleiderständer links vom Fenster aufgehängt hatte. Er war aber zu nervös gewesen, um sich über ihn zu wundern. Hatte der Mann sie beobachtet? Wenn ja, warum? Vielleicht hatte er all das verursacht.
Andrew sprang die letzten drei Stufen der Treppe mit einem Satz hinunter, stieß die Notausgangstür auf und stand nun auf der Straße. Keuchend beugte er sich vornüber und stützte die Arme auf die Knie. Das war alles zu viel für ihn. Es konnte einfach nicht real sein. Gleich würde er zu Hause, schweißgebadet in seinem Bett aufwachen und merken, dass alles nur ein Traum war.
Zu Hause... Er musste dort hin. Seine Sachen packen und das Land verlassen -  weit weg nach Kanada oder vielleicht Europa. Da würde ihn wohl keiner suchen. Er fand sein Auto an der Straße, stieg ein, warf das Hemd auf den Rücksitz und startete den Motor. Seine Hände zitterten am Lenkrad. Auf einem paranoid anmutenden, ziemlich umständlichen Weg fuhr er zu seinem Apartment im Herzen Richmonds.
Dort angekommen, parkte er sein Auto einfach im Parkverbot. Sollte man ihm ruhig einen Strafzettel geben. Morgen würde niemand  mehr wissen, wo er die Mahnungen hinschicken sollte.
Oben in seiner Wohnung, begann er wahllos Sachen aus den Schränken zu räumen und in den einzigen Koffer, den er besaß, zu werfen. Er hatte absolut keine Ahnung, was er brauchte. Als er auf das Chaos in seinem Koffer blickte, sank er auf dem Boden zusammen und vergrub die Hände im Gesicht. Er würde das nie durchziehen können. Er war nicht der Typ dafür. Er war all dem einfach nicht gewachsen. Aber stellen konnte er sich auch nicht. Bei der Brutalität, die er dem Mann gegenüber gezeigt haben musste, würde er bestimmt die Giftspritze bekommen.
Er blickte auf und sah die Flasche Scotch auf dem Wohnzimmertisch stehen. Ein Glas stand noch von gestern Abend daneben. Er stand auf, schenkte sich ein Glas ein und trat ans Fenster. Auf den Straßen war es ruhig. Kein Wunder, war es ja schon zwei Uhr nachts. Vereinzelt brannte noch Licht in den Fenstern der Hochhäuser, doch der Großteil der Stadt schlief. Nichts deutete darauf hin, dass ihn jemand verfolgte. Wie sollte es auch anders sein, dachte er sich. Den Mann hatte schließlich bestimmt noch niemand gefunden und vor Anbruch des Tages würde sich das wohl auch nicht ändern. Vermutlich würde niemand ihn auch nur mit der Tat in Verbindung bringen. Das Treffen mit Ferguson war schließlich geheim gewesen. Ein wenig erleichtert atmete er durch und nahm einen Schluck aus seinem Glas, während er auf eine der Straßenlaternen unten starrte. Daneben stand ein Mann, der offensichtlich zu ihm hochblickte. Einen Sekundenbruchteil später wurde ihm wieder schwarz vor Augen.
Als er aufwachte, hatte er Schmerzen am ganzen Körper und sein Atem ging sehr schwer. Der Mann von vorhin stand über ihn gebeugt und lächelte ihn an. Es war auch der Mann, der das Treffen beobachtet hatte, wurde ihm nun bewusst.
„Sie sind bei Bewusstsein, Mr. Johnson, wie schön! Ich hatte schon befürchtet, ich könnte mich nicht mehr gebührend von Ihnen verabschieden.“ Das Lächeln des Mannes wurde breiter und verabscheuungswürdiger. „Sie haben hervorragend mitgemacht, das muss man sagen. Ich würde Ihnen wirklich gerne die Hand schütteln, aber dann hätten wir uns unser kleines Unterfangen heute Abend wahrlich sparen können.“
Andrew versuchte sich aufzusetzen, aber seine Arme versagten ihm den Dienst. Überhaupt alle Gliedmaßen schienen das langsam zu tun.
„Nicht doch, Mr. Johnson. Sparen Sie ihre Kräfte. Es gibt keinen Grund mehr, aufzustehen. In ein paar Minuten ist alles vorbei.“
Vorbei? Was meinte der Mann? Unter Schmerzen blickte er an sich herunter. Sein ganzer Brustkorb war mit Einstichwunden übersäht und Blut sickerte unaufhörlich aus jeder einzelnen.
„Beachtlich, nicht wahr? Das waren Sie! Sie sind wirklich perfekt auf unser kleines Experiment angesprungen. Sie haben unsere Erwartungen sogar übertroffen. Wie Sie Mr. Ferguson für uns liquidiert haben – fabelhaft! Eine kleine Menge unseres Präparats reichte bei Ihnen schon aus, um den gewünschten Effekt zu erzielen. Das war ein sehr hilfreiches Testergebnis.“
„Wer…sind…sie?“, keuchte er mit letzter Kraft. Blut sammelte sich in seinem Mund.
„Oh, wo sind nur meine Manieren? Nun, ich bin Mitarbeiter einer Firma, die experimentelle Präparate für das Militär herstellt. Weder mein Name, noch der Name meiner Firma wird ihnen wirklich helfen, wo sie gleich sterben werden, aber ich kann ihnen zumindest sagen, was der Grund für ihren Zustand ist. Ich denke, das ist nur fair.“ Er griff in seine Westentasche und holte eine kleine, unscheinbare Kapsel heraus. „Wir haben ihnen dieses Präparat gegeben. Es macht einen Menschen zu einem rasenden Mörder und lässt ihn den ersten Menschen umbringen, den er finden kann. Wie Sie sicherlich schon gemerkt haben dürften, wird es durch Alkohol aktiviert und sorgt dafür, dass sich der Proband später nicht mehr an seine Tat erinnern kann. Mr. Ferguson war ebenfalls nur ein Testobjekt. Wir brauchten ja ein Opfer. Er war bis zu einem gewissen Grad eingeweiht und dazu angehalten, ihnen Alkohol anzubieten. Natürlich wusste er nicht, welche Konsequenzen das für ihn haben würde.“ Er lachte. „So konnten wir sie, ohne uns die Hände schmutzig zu machen, zu einem Mord anstiften. Ist das nicht wunderbar? Und nun haben sie uns sogar den Rest der Arbeit abgenommen, indem sie erneut Alkohol zu sich nahmen, bevor das Präparat in ihrem Körper abgebaut wurde. Schließlich waren Sie der einzige Mensch im Raum. Einfach grandios. Wir sind ihnen wirklich zu Dank verpflichtet, Mr. Johnson. Ich wünsche ihnen eine angenehme Reise!“
Er hörte noch, wie der Mann den Raum verließ, dann wurde ihm abermals schwarz vor Augen – und es wurde nie wieder hell.

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